„Wir haben ein Ausbildungsproblem“

Leistung steht nicht mehr im Mittelpunkt bei der Benotung im Sportunterricht SZ-Interview mit Professor Dr. Georg Wydra, dem Präsidenten des Sportlehrer-Verbandes – SZ-Serie, Teil 7

Saarbrücken. Professor Dr. Georg Wydra ist seit Oktober 1995 Inhaber der Professur für Gesundheits- und Sportpädagogik an der Universität des Saarlandes und Präsident des Deutschen Sportlehrer-Verbandes im Saarland. SZ-Mitarbeiter Sebastian Zenner hat im Rahmen der Serie „Schule und Sport“ mit Wydra gesprochen – über Fachlehrermangel, die fehlende Ausbildung und das föderale Bildungssystem in Deutschland. Vor etwa zehn Jahren wurde für das Schulfach Sport ein neues Konzept entwickelt. Anstelle der Leistung werden sechs pädagogische Perspektiven beachtet, unter anderem die Entwicklung des Gesundheitsbewusstseins.

Herr Prof. Dr. Wydra, die Notwendigkeit des Schulfaches Sport wurde bisher von keinem der Gesprächspartner im Rahmen der SZ-Serie „Schule und Sport“ in Frage gestellt. Woher kommt die Einigkeit?

Prof. Dr. Georg Wydra: Der Sportunterricht ist ein Beitrag zur Allgemeinbildung. Und das bedeutet: Bildung für alle. Was die Sportpartizipation angeht, haben wir schon eine soziale Schieflage. Zum Beispiel sind hier insbesondere weibliche Migranten in erheblichem Maße benachteiligt. Die soziale Schichtzugehörigkeit oder auch das Wohnquartier spielen dabei eine Rolle. Nicht alle haben Zugang zu Sport. Auch um alle Bereiche des menschlichen Daseins im Bildungssystem abzubilden, braucht man den Sport. In welchem anderen Bereich wird das Leibliche, das Spielerische oder der natürliche Bewegungsdrang, die zweifelsohne anthropologische Grundgrößen sind, berücksichtigt? Leider leben wir in einer Zeit der Ökonomisierung. Die Ökonomen und die Industrie machen irgendwelche Vorgaben, und man sieht gerade aktuell, dass die Bologna-Bildungsreform gescheitert ist, weil man Ökonomen gefolgt ist. Wir müssen einfach einsehen, dass es jenseits der Ökonomie bestimmte Größen gibt, die man berücksichtigen muss. Und der Sportunterricht, oder besser noch bildet es der früher verwendete Begriff „Leibeserziehung“ ab, gehört einfach dazu.

Was genau meinen Sie mit der Ökonomisierung der Bildung?

Wydra: Ende des letzten Jahrtausends haben viele internationale Gremien und Institutionen, allen voran die OECD, die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems kritisch hinterfragt. Die PISA-Studie hat, angelehnt an zweifelhafte Indikatoren, Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Es wurde maßgeblich unterstützt, auch von der Wirtschaft, eine Reihe von Reformen wie das achtjährige Gymnasium und die Bologna-Reformen auf den Weg gebracht. Bei der Argumentation ging es nur darum, dass Deutschlands Schul- und Hochschulabsolventen angeblich zu alt waren. In diesen Tagen hören wir, dass die Wirtschaft mit 22-jährigen Bachelorn wenig anfangen kann, weil ihnen die Reife für Führungsaufgaben in der Industrie fehlt.

Ein Problem, das in unserer Serie schon mehrfach angesprochen wurde, ist der Fachlehrermangel an Grundschulen. Wie konnte es dazu kommen?

Wydra: Wir haben das Dilemma, dass die Pädagogische Hochschule des Saarlandes 1978 geschlossen wurde und damit auch die Sportlehrer-Ausbildung für die Grundschule abgeschafft wurde. Seitdem kamen die Grundschul-Lehrerinnen und -Lehrer aus Landau zu uns, aber größtenteils ohne Kompetenzen in diesem Bereich. Ab dem kommenden Wintersemester werden diese Leute wieder hier ausgebildet. Wir haben ein Ausbildungsproblem, weil viele Lehrerinnen und Lehrer in Grundschulen einfach keine Ausbildung in Kunsterziehung, in Musikerziehung und in Sporterziehung gemacht haben. Das liegt aber an der Kultusministerkonferenz, die diese Fächer vor ein paar Jahren unter dem Begriff „ästhetische Bildung“ zusammengefasst hat. Meiner Meinung nach muss jeder Grundschul-Lehrer in diesem ästhetischen Bereich ausgebildet sein.

Inwiefern betrifft die Einführung von Ganztagsschulen den Sport allgemein?

Wydra: Die Vereine, vor allem des Leistungssports, werden langfristig nur existieren können, wenn sie sich Gedanken machen, wie man außerhalb vom Elitegymnasium die sportliche Aktivität fördern kann. Der Ganztag bietet hierfür ja eine Riesenchance. Aber dort müssen ausgebildete Sportlehrerinnen und Sportlehrer diese Kapazitäten übernehmen. Es wird ein großes Erwachen der Vereine und Verbände geben, wenn irgendwann kein Nachwuchs mehr da ist. Das ist ein generelles Problem: Inwieweit können wir den Leistungssport in Deutschland noch mit ehrenamtlichen Kräften vorantreiben? Diese Diskussion ist ja gerade jüngst nach dem Abschneiden der deutschen Olympioniken in London wieder entbrannt. Wir brauchen mehr hauptamtliche, gut bezahlte Trainer, um das Ganze zu professionalisieren.

Die Auswirkungen auf den Leistungssport sind das eine. Inwieweit könnte ein Mehr an Schulsport – einhergehend mit einem Mehr an Fachkräften – Nutzen für die Breite bringen?

Prof. Dr. Wydra: In einer Dissertation aus Köln wurde festgestellt, dass an den Tagen, an denen Sportunterricht stattfindet, wesentlich weniger Unterrichtsstörungen in anderen Fächern zu beobachten waren. Einfach als Folge dessen, dass sich die Schülerinnen und Schüler ausgetobt haben und deshalb innerlich zur Ruhe gekommen sind. Optimal wäre es sicherlich, wenn man in der Schule nach einer halben Stunde sportlicher Betätigung in den Alltag starten würde. Das haben übrigens Studien aus den USA und auch Modellprojekte in Deutschland bewiesen.

Sollten Schulen im Saarland ähnliche Projekte initiieren?

Wydra: Bevor man neue Projekte startet, muss die Schule im Saarland mal zur Ruhe kommen. Wenn sich die jüngsten Veränderungen in den nächsten Jahren gesetzt haben, wird man vielleicht auch in diesem Bereich wieder etwas mutiger werden.

Sollte Bildung Ihrer Meinung nach Bundessache sein?

Wydra: Die Väter des Grundgesetzes haben sich bei der föderalen Struktur und auch dabei, die Kulturhoheit bei den Ländern zu belassen, schon etwas gedacht. Es ist, denke ich, nicht gut, wenn alle Entscheidungen – wie zum Beispiel in Frankreich – zentral getroffen werden. Wir haben hier in Deutschland einen Wettbewerb zwischen den Ländern, und irgendwann wird sich das beste System durchsetzen. So wie es auch das Konzept des erziehenden Sportunterrichts in den meisten Bundesländern getan hat (siehe auch Randtext). Natürlich könnte man das eine oder andere noch besser abstimmen, aber ich finde das föderale System gar nicht so verkehrt.

Erfolge über ein neues Konzept

Saarbrücken. Mit einem Zitat aus dem 18. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau eröffnete Professor Dr. Georg Wydra die Gesprächsrunde mit der SZ sowie den Landesfachkonferenz-Mitgliedern Albrecht Berkenkamp (Landesfachberater Sport und Vorsitzender der Landesfachkonferenz Sport) und Gerhard Dahm (Fachleiter Sport): „Vor allem wegen der Seele ist es nötig, den Körper zu üben, und gerade das ist es, was unsere Klugschwätzer nicht einsehen wollen.“

Der Satz gilt als Leitspruch des Landesverbands Saar des Deutschen Sportlehrerverbands (DSLV-Saar) für das Jahr 2012. „Sport gehört zum Bildungsauftrag, daran führt kein Weg vorbei“, sagt Albrecht Berkenkamp. Gerhard Dahm, der zwischen 2000 und 2010 Vorsitzender der Lehrplankommission war, ergänzt: „Das eigentliche Ziel ist, die sportliche Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen herzustellen. Wenn sie aus der Schule kommen, sollten sie in der Lage sein, Sport zu treiben.“

Um dies zu gewährleisten, wurde vor etwa zehn Jahren ein neues Unterrichtskonzept für das Fach Sport etabliert, der „mehrperspektivische Sportunterricht“. Früher stand die Leistung im Mittelpunkt der Benotung, heute ist das anders: „Die Sichtweise ist viel differenzierter geworden. Wir betrachten sechs pädagogische Perspektiven, bei denen die Leistung auch einen Teil darstellt, aber eben einer unter vielen“, erklärt Dahm und verweist auf die Notwendigkeit, Kindern schon im Grundschul-Alter über den Sportunterricht ein gesundheitliches Bewusstsein zu vermitteln. Die neuen pädagogischen Perspektiven sind: Verbesserung und Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit und der Bewegungserfahrungen, körperliches Ausdrücken und Bewegungsgestaltung, die Entwicklung eines Gesundheitsbewusstseins und die Verbesserung der Fitness, etwas wagen und verantworten, das Erfahren und Reflektieren des Leistens und die soziale Perspektive des gemeinsamen Handelns und Wettkämpfens.

Ein wesentlicher Aspekt der Lehrplan-Veränderung war auch die Erschließung von Bewegungsfeldern statt der Orientierung an klassischen Sportarten. Seither wird versucht, den Schülerinnen und Schülern den Spaß am Sport und die Eigenmotivation durch spielerische Anreize nahe zu bringen. Hilfestellung für die Umsetzung des Konzepts erhalten die Sportlehrer über das umfangreiche Fortbildungsangebot des Landesinstituts für Pädagogik und Medien (LPM). „Seit das Konzept durchgesetzt wird, sind die Noten im Fach Sport mittlerweile relativ gut“, stellt Albrecht Berkenkamp fest. Dass die Kinder und Jugendlichen ohnehin Spaß am Unterrichtsfach Sport haben, ist durch unterschiedliche Studien belegt.

„Es wäre sehr schön, wenn man es erreichen könnte, dass jedes Kind im Saarland schwimmen lernt“, wünscht sich Albrecht Berkenkamp. Allerdings wurde aufgrund von vermehrten Schwimmbad-Schließungen vor etwa vier Jahren das Schwimmen aus dem Lehrplan des gymnasialen Neigungsfachs (früher: „Leistungskurs“) Sport gestrichen. „Ich halte einen Förderunterricht für Schüler mit starken motorischen oder körperlichen Defiziten für dringend notwendig“, äußert Berkenkamp einen weiteren Wunsch.

Im Internet:

lpm.uni-sb.de

dslv-saar.de

swi-uni-saarland.de

Veröffentlicht seit Ende August 2012 in unterschiedlichen Lokalausgaben der Saarbrücker Zeitung.

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